Neue Nester gegen hohe Mieten - Artikel im Südkurier
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Brigitte Gisel berichtet in Ihrem Artikel im Südkurier über die nestbau AG und die gemeinwohlorientierte Wohnbauszene in Tübingen. Bei dem nachfolgenden Text handelt es sich um einen wörtlichen Abdruck ihres Artikels vom 27.07.2024. Wir danken Frau Geisel für die freundliche Genehmigung.
Basisdemokratisch, solidarisch, bezahlbar - In Tübingen wollen private Initiativen wie „nestbau“ oder das „Vier-Häuser-Projekt“ Leben in der Stadt mit gemeinwohlorientiertem Wohnungsbau Immobilien den Gesetzen des Marktes entziehen.
Klienten brachten Steuerberater Gunnar Laufer-Stark auf die Idee. Einige hatten geerbt – und gaben offen zu, auch vorher schon genug Geld gehabt zu haben. „Weißt Du, eigentlich brauche ich die 50.000 Euro von der Tante gar nicht“, erklärte ihm einer seiner Kunden. Der eine oder die andere signalisierte sogar Bereitschaft, Geld fürs Gemeinwohl einzusetzen. Gunnar Laufer-Stark dachte nach. 2010 gründete er die Nestbau AG, eine Aktiengesellschaft, mit dem Ziel, bezahlbare und energieeffiziente Wohnungen zu schaffen. Das Konzept: Aktien erhöhen das Eigenkapital und reduzieren damit die Summe, die sich die AG auf dem Kapitalmarkt beschaffen muss. Das senkt erst die Finanzierungskosten und dann die Mieten.
Gründer Gunnar Laufer-Stark vor dem ersten Haus der nestbau AG in der Tübinger Weststadt
Solidarisch, unverkäuflich, bezahlbar
In Tübingen ist Nestbau eines von mehreren Projekten, die mit neuen Ansätzen der Wohnungsnot etwas entgegensetzen wollen. Das ist auch dringend nötig. In Schwarmstädten wie der Unistadt am Neckar ist Wohnraum extrem knapp. Neubauwohnungen mit 80 Quadratmetern für 1.600 Euro Miete sind keine Seltenheit – kalt, versteht sich. Solche Mietpreise überfordern nicht nur junge Familien oder Rentner. Hinzu kommt: Selbst, wer sich so ein Domizil leisten könnte, muss es erst einmal finden. In Deutschland fehlen laut Immobilienexperten aktuell rund 600.000 Wohnungen, der soziale Wohnungsbau stagniert. Gleichzeitig sammelt sich auf den Bankkonten der Deutschen immer mehr Geld an. Zuletzt bezifferte die Bundesbank das Geldvermögen der Privathaushalte auf mehr als 7.000 Milliarden Euro. Rekord.
Tübingen, das einst mit dem „Tübinger Modell“ und seinen Baugemeinschaften zum bundesweiten Trendsetter wurde, hat Erfahrung mit neuen Konzepten in der Stadtentwicklung. Mehrere Initiativen sind inzwischen im gemeinwohlorientierten Wohnungsbau engagiert. Neben der Aktiengesellschaft Nestbau ist das beispielsweise das eher alternativ angehauchte „Vier-Häuser-Projekt“, das zum bundesweit agierenden Mietshäuser-Syndikat gehört. Hinzu kommt die Genossenschaft Neustart, die Dachgenossenschaft Wohnen sowie die Beginenstiftung und GIMA, die gemeinwohlorientierte Immobilienagentur. Das gemeinsame Ziel: Den Wohnungsmarkt nicht den Heuschrecken überlassen, wie es einst das Magazin „Chrismon“ formulierte. Die Projekte sprechen aber auch Menschen an, die aus den verschiedensten Gründen gar keine Immobilien kaufen wollen oder können.
Aktien für bezahlbares Wohnen
Die nestbau AG ist bundesweit einmalig, ihre Aktien werden nicht an der Börse gehandelt, die Gemeinwohlorientierung lässt man sich extern zertifizieren. Inzwischen hat sie knapp 4.000 Quadratmeter Wohn- und Geschäftsräume in Tübingen und Umgebung geschaffen, zehn Prozent davon sind Sozialwohnungen. Mit dabei sind auch eine Demenz-WG oder eine ambulant betreute Wohngemeinschaft für Ältere in einem Stadtteil.
Aktuell entsteht im Tübinger Ortsteil Pfrondorf ein Mehrfamilienhaus, das gezielt Ältere anspricht und Anreize schaffen will, zu groß gewordene Häuser an Familien zu vermieten oder zu verkaufen. Laufer-Starks Idee: „Mit einem Quadratmeter Neubau machen wir zwei Quadratmeter im Bestand frei.“ Für das Pfrondorfer „Neschtle“ ist ein Quadratmeterpreis von 15 Euro pro Quadratmeter anvisiert. Wie auch anderswo sind die privaten Wohnungen eher kleiner konzipiert: Gemeinschaftsräume, Ateliers und Gästezimmer sollen gemeinsam genutzt werden.
Modell des Pfrondorfer "Neschtles" (Foto: Gudrun de Maddalena)
Ein fünftes Haus für das "4-Häuser-Projekt" in der Tübinger Südstadt
Gebaut wird auch in der Tübinger Südstadt. In der Hechinger Straße, zwei Steinwürfe von der katholischen Kirche St. Michael entfernt, wächst auf einer früheren Brache ein Mehrfamilienhaus. Zwölf Wohnungen für 75 Personen, drei Viertel davon für Menschen mit Wohnberechtigungsschein. Dazu gibt es Gewerberäume, auch ein Stadtteilcafé ist geplant. Es sieht aus wie auf jeder anderen Baustelle. Kran, Absperrungen, nackte Wände. Nur das Transparent am Bauzaun lässt ahnen, dass hier etwas anders ist: „Basisdemokratisch, solidarisch, unverkäuflich, bezahlbar“, steht dort. Bauherr ist das Vier-Häuser-Projekt, das hier seinen ersten Neubau erstellt.
Martin Struppe schaut vom Küchentisch seiner Wohngemeinschaft direkt auf die Baustelle – mit viel Stolz. „Wir können die Wohnungen für 7 Euro den Quadratmeter vermieten“, sagt er. Für Tübingen sensationell wenig. Dabei hat allein der Bauplatz 810.000 Euro gekostet, wie der Sprecher des Projekts erzählt. Möglich machen es die Überschüsse, die durch auslaufende Kredite für die anderen Häuser entstanden – und die kollektiv getroffene Entscheidung, dass die Neubauwohnungen nicht teurer sein sollen als die bestehenden. Mit dem frei werdenden Geld wird nun die Miete im Neubau subventioniert. Der 65-jährige Busfahrer wohnt seit fünf Jahren in einem der Projekte-Häuser in der Südstadt. Zuvor lebte er in einem anderen Haus des Mietshäuser-Syndikats. Er ist ein großer Fan der Selbstverwaltung, auch wenn sie Zeit und manchmal Energie kostet. „Zwei Abende die Woche“ bilanziert Roland Marks den Aufwand. Er wohnt mit seiner Familie seit Langem in einem der Nachbarhäuser und zieht nun – die Kinder sind bald flügge – Ende des Jahres in eine der kleineren Neubauwohnungen.
Das Projekt "Fünftes Haus". Oben andere Straßenseite: die älteren Bestandshäuser des Vier-Häuser-Projekts (Foto: plusbauplanung)
Mit langem Atem, Glück und tatkräftiger Unterstützung der Stadt ist es dem Vier-Häuser-Projekt 2011 gelungen, vier ehemalige Offiziershäuser aus dem Immobilienbestand der LBBW herauszulösen und zu kaufen. Seither leben dort Wohngemeinschaften und Familien, eine Wohnung hat der Verein für soziale Psychiatrie angemietet. Das Vier-Häuser-Projekt gehört zum bundesweit agierenden Mietshäuser-Syndikat mit Sitz in Freiburg, das in Konstanz mit einem Frauen-Wohnprojekt vertreten ist.
Was die Aktiengesellschaft Nestbau, das Vier-Häuser-Projekt und die Genossenschaften bei allen Unterschieden eint: Diese Wohnungen kann niemand mehr verkaufen, um damit reich zu werden. Eigentümer der Häuser und Wohnungen bleiben die jeweiligen Institutionen, wer dort wohnt ist Mieter. Außerdem bitten alle Akteure Bürger, ihr Geld für die Finanzierung bezahlbaren Wohnraums anzulegen und dabei ganz oder teilweise auf eine Rendite zu verzichten. „Geld anlegen für einen guten Zweck“, nennt das Laufer-Stark. Die Aktien der AG werden nicht an der Börse gehandelt und werfen im Moment auch noch keine Dividende ab. Das Vier-Häuser-Projekt setzt auf niedrig verzinste Direktkredite. Auch Spenden werden gerne genommen. Bei Genossenschaften wie Neustart werden Anteile gezeichnet.
Die Stadt Tübingen unterstützt tatkräftig
Die Idee wird von der Tübinger Stadtverwaltung ausdrücklich unterstützt. So beschloss der Gemeinderat eine Anschubfinanzierung für die die neu gegründete Gemeinwohlorientierte Immobilienagentur GIMA mit 10.000 Euro pro Jahr. Sie wurde vergangenes Jahr von vier der Unternehmen gegründet, die in Tübingen und Umgebung gemeinwohlorientiert Häuser bewirtschaften. GIMA soll die Idee bekannt machen und bei Immobilienverkäufern dafür zu werben, auf den letzten Cent Rendite verzichten und ihr Haus lieber an Neustart, das Mietshäuser-Syndikat oder die GIMA selbst zu veräußern. „Wohnungen sozialverträglich verkaufen“, nennt das Annette Guthy, die im Auftrag von GIMA bei potenziellen Verkäufern für die Idee wirbt. Die Idee: Mieter könnten in ihren Wohnungen bleiben und müssten keine Angst mehr haben, dass ihnen eines Tages die Eigenbedarfskündigung ins Haus flattert.
Tübingens Baubürgermeister Cord Soehlke ist voll des Lobes für die neuen Akteure. Doch er kennt auch die Schwierigkeiten. Neue Genossenschaften wie die von der Stadt initiierte Dachgenossenschaft Wohnen oder Neustart verlangen von ihren Mitgliedern Kapitaleinlagen. Die Dachgenossenschaft Wohnen rechnet vor, dass eine vierköpfige Familie für eine 80 Quadratmeter große Wohnung einen Pflichtanteil von 80.000 Euro beisteuern muss. Das geht allerdings auch über zinsgünstige Darlehen und einen Solidarfonds, der einspringt, wenn das Geld nicht reicht. Den gemeinwohlorientierten Initiativen spielt die Tatsache in die Hände, dass die Mieten in Tübingen Soehlkes Einschätzung zufolge weiter steigen werden. Er erwartet, dass der Preis für einen Quadratmeter Wohnraum, der heute laut Mietspiegel bei 13 Euro liegt, in wenigen Jahren bei 18 Euro liegen wird. Bewohner der Genossenschaftshäuser, von Nestbau oder dem Vier-Häuser-Projekt lässt das dann kalt.
Tübingens Baubürgermeister Cord Soehlke beim Richtfest des Gebäudes C2 im neuen Quartier "Hechinger Eck Nord" (Foto: Ulrich Otto)
Der Werkzeugkasten des Stadtplaners: Bodenpolitik
Frage an Tübingens Baubürgermeister Cord Soehlke: Was können Kommunen tun, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen? Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen. „Das wesentlichste Instrument, das Kommunen zur Verfügung haben, ist Bodenpolitik.“
Das Konzept: Bevor ein neues Gebiet bebaut wird, kauft in Tübingen die Stadt die Flächen auf. Vergeben werden die Grundstücke dann „konzeptorientiert“. Den Zuschlag bekommt nicht, wer am meisten bietet, sondern wer einen Plan vorlegt, der am besten ins städtebauliche Konzept der Stadt passt, wie Soehlke erklärt. Das können Räume für eine Pflege-WG sein oder ein Stadtteiltreff. Kommunen, die so weit nicht gehen möchten, rät Soehlke, auch über das Planungsrecht Einfluss nehmen und so beispielsweise ein Gewerbegebiet zu einem Wohngebiet umzugestalten. „Und sie müssen den Projekten Raum und Zeit geben.“
Die neuen Viertel: Soehlke war einer der Väter des Tübinger Modells: Neue Viertel, die durch frei werdende Militärareale oder auf Industriebrachen entstanden, wurden statt mit Bauträgern mit Baugemeinschaften realisiert. Das schuf das vielfach ausgezeichnete „Französische Viertel“ und Nachfolgeobjekte und hat auch Menschen zu Eigentum verholfen, die sich das sonst nicht hätten leisten können. Soehlke selbst hat lange Jahre im „Französischen Viertel“ gelebt.
Das Gemeinwohl: Den Begriff Gemeinwohlorientierung fasst Soehlke bewusst weit. Für ihn sind das alle Vorhaben, mit denen in den Wohnungsmarkt durch gesetzliches Handeln eingegriffen wird. „Es gibt nicht die eine Wahrheit. Alles, was jenseits der klassischen Bauträger passiert, ist reizvoll.“ Akteure sind für ihn die kommunale Wohnungsbaugesellschaft gleichermaßen wie Baugemeinschaften oder ganz neue Initiativen. Und das nicht nur in Städten. „Auch eine oberschwäbische Kommune kann sich die Frage nach gemeinwohlorientierter Wohnungsbaupolitik stellen“, sagt Soehlke. Da geht es dann oft darum, Älteren die Möglichkeit zu geben, in der Gemeinde zu bleiben. Umdenken sei in Land und Stadt gleichermaßen gefragt: „Die Standardmodelle der letzten 20, 30 Jahre mit Reihenhaussiedlungen an den Stadträndern funktionieren nicht mehr.“ Neue Ansätze sieht er auch auf einem anderen Feld. „In der Zukunft geht es nicht nur darum, möglichst viel neu zu bauen. ´Die spannende Frage ist: Wie gehen wir mit dem Bestand um?´“ (sel)